Bergedorf in den 1990er Jahren
Die 1990er Jahre brachten tiefgreifende Veränderungen nach Bergedorf: Die deutsche Wiedervereinigung führte zur Aufnahme von DDR-Übersiedlern, neue Stadtteile wie Neuallermöhe entstanden, Umweltthemen wie die Dioxin-Belastung der Bille-Siedlung rückten in den Fokus, und Infrastrukturprojekte veränderten das Gesicht des Bezirks grundlegend.
Wiedervereinigung und ihre Folgen
1990: DDR-Übersiedler in Bergedorf
Nach dem Mauerfall im November 1989 kamen Hunderte DDR-Aus- und Übersiedler nach Bergedorf. Anfang 1990 lebten 220 Personen seit November 1989 in einer Bezirkssporthalle am Ladenbeker Furtweg. Am 3. Januar 1990 wurden sie in Bundeswehrkasernen nach Jenfeld und Harburg verlegt. Am 5. März 1990 begann die Errichtung von 46 Wohncontainern im "Pavillon-Dorf" an der Rothenhauschaussee für bis zu 420 Aus- und Übersiedler. Der erste Einzug erfolgte am 3. Mai 1990.
Ab 15. Februar 1990
Die "Mecklenburger Anzeigen und Nachrichten" – erste private Zeitung in der (noch) DDR – wurde bei der bz-Buchdruckerei Ed. Wagner am Curslacker Neuer Deich gedruckt. Bergedorf als Brücke zwischen Ost und West.
23. Dezember 1994
Nach mehr als 30 Jahren schlossen sich die Tore der Bose-Bergmann- und der Bismarck-Kaserne in Wentorf um 11 Uhr. Das Ende einer Ära: Die 1938 für die Wehrmacht gebauten und ab 1960 von der Bundeswehr genutzten Kasernen wurden aufgegeben. Später entstand hier ein Wohngebiet.
Umweltthemen und Naturkatastrophen
28. Februar 1990: Sturmflut erreicht 1962er-Niveau
Bei der vierten Sturmflut innerhalb von 48 Stunden erreichte der Elbwasserstand 5,70 Meter über Normal Null – exakt die gleiche Höhe wie bei der großen Februar-Flut von 1962. Doch diesmal hielten die zwischenzeitlich erbauten neuen Deiche und Hochwasserschutzanlagen stand und schützten das hinterliegende Gebiet erfolgreich.
14. Januar 1991
Die Umweltbehörde gab aufgrund ihrer Dioxin-Messungen die hohe Verseuchung der Bille-Siedlung (Moorfleet) bekannt. Betroffen waren etwa 1.000 Bürger in 240 Gebäuden. Umweltsenator Kubier empfahl den Siedlern fortzuziehen. Der Senat stellte 100 Millionen DM bereit, um die betroffenen Häuser aufzukaufen. Am 22. Januar wurde Hans-Jürgen Reimann zum Senatsbeauftragten für die Bille-Siedlung ernannt. Am 14. März 1991 bewilligte die Bürgerschaft weitere 16 Millionen DM für die Umsiedlung.
7. Juni 1991
Westlich des Oortkatenwegs wurde die erste Windenergieanlage auf Hamburger Gebiet in Betrieb genommen (Nabenhöhe 32,7 m, Rotordurchmesser 24,6 m). Betreiber waren Jens Heidorn und Klaus Soltau. Das kleine Windrad lieferte Strom für umgerechnet etwa 75 Haushalte – ein Pionier erneuerbarer Energien.
25. April 1995
Nach langen Verhandlungen mit Behörden erfolgte der erste Spatenstich für den Bau von vorerst sechs Windkraftmühlen als Windpark in den Vierlanden. 1998 folgten weitere, bis zu 70 Meter hohe Windräder auf der südlichen Seite des Ochsenwerder Landscheidewegs.
6. Februar 1999
Eine weitere Sturmflut führte zu Schulausfall in Kirchwerder und Ochsenwerder. Das Wasser lief am St.-Pauli-Pegel auf 5,66 m über NN, bei Zollenspieker auf 5,85 m und bei der Werft in Oortkathen sogar auf 5,90 m – höher als 1962! Doch die Katastrophe blieb dank moderner Deiche aus.
Infrastruktur und Verkehrsprojekte
3. Februar 1990
Beim Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus Boberg wurde der ADAC-Rettungshubschrauber stationiert – ein Meilenstein für die Notfallversorgung in Hamburgs Osten.
15. März 1991
Fertigstellung der lange umstrittenen teilverschiebbaren Fußgängerbrücke im Zielbereich der Ruder- und Kanu-Regattastrecke im Wasserpark Dove-Elbe.
11. April 1991
Einweihung des Feuerwehr-Teils von Bergedorfs großer Zentralwache für Feuerwehr und Polizei am Sander Damm. Die Polizei nebst Kripo zog nach Aufstockungsbauarbeiten später ein.
23. August 1991
Wiedereinzug der Freiwilligen Feuerwehr Bergedorf in die Wache Chrysanderstraße. Die FFW war ab 1976 am Grabendamm stationiert; das Chrysanderstraßen-Gebäude wurde durch den Auszug der Berufsfeuerwehr frei.
15. April 1996
Die DB schloss den Bahnübergang Chrysanderstraße für den Autoverkehr um Punkt 9:00 Uhr. Nur der Möörkenweg blieb zunächst offen. Für Fußgänger blieb ein Übergang bis zur Fertigstellung des Tunnels Chrysanderstraße.
30. Mai 1999
Bausenator Eugen Wagner und Bezirksamtsleiterin Christine Steinert weihten die neue S-Bahnstation Allermöhe (für Neuallermöhe-West) ein. Bauherr war die DB, Architekt: Prof. Dieter Patschan vom Büro BPHL Architekten.
Entstehung von Neuallermöhe
18. April 1990
Offizielle Eröffnung des dritten Kindertagesheims in Neu-Allermöhe (Träger: AWO) am Rosa-Schapire-Weg durch Schulsenatorin Raab und Bezirksamtsleiterin Christine Steinert.
24. Juli 1995
Die ersten Bewohner von Neuallermöhe-West zogen in ihre Wohnungen. Am 27. Juli begann die Arbeit der Kirche: Pastor Andreas Kalkowski zog mit einem für 700 DM gekauften Bauwagen auf die Großbaustelle am Von-Moltke-Bogen.
Kultur und Bürgerengagement
10. Juni 1990
Enthüllung des bronzenen Denkmals "Die Marktschreier Gerda und Heinz" von János Enyedi am Rande des Lohbrügger Marktplatzes. Viele Bürger hatten Gelder für den Guss der beiden typischen Marktfiguren "dazugegeben", da die Hamburger Kulturbehörde die Arbeit zunächst nicht fördern wollte. Die Figur hatte Enyedi bereits 1979 geschaffen!
23. Juni 1990
Nach achtmonatiger Restaurierung wurde die (ehemalige Vierländer Eisenbahn-)Brücke von 1911 über die Gose-Elbe mit einem Bürgerfest wieder eingeweiht. Die sogenannte "Hein-Wulff-Brücke" beim Achterdiek stellt die kurze Verbindung zwischen Neuengamme und Kirchwerder her.
Anfang Oktober 1990
Restauratoren begannen mit der Freilegung eines alten Deckengemäldes von 1927 in der Eingangshalle des Rathauses. Anschließend wurde ein Nachbau der ehemaligen Art-Deco-Beleuchtung eingebaut.
März 1991
Sigrid Hänel wurde zur ersten Vorsitzenden des Bergedorfer Bürgervereins gewählt – die erste weibliche Vorsitzende seit Gründung des Bürgervereins 1847! Ihr Vorgänger von 1983 bis 1991, Jürgen Riepe, übernahm einen Beisitzerposten.
4. März 1991
Abriss des Gebäudes des historischen Cafés "Kaffee Möller" in der Alten Holstenstraße (geplant war ein Neuaufbau der Einrichtung im Schloss). Die erhaltenswerte historische Inneneinrichtung hatte der Neubesitzer Jörn Eckermann im Juni 1990 nach Vermittlung durch G. Hoffmann dem Bergedorfer Museum gestiftet.
11. April 1991
Das Archiv der "Hasse-Gesellschaft" zog als Mieter in das Geburtshaus des Komponisten Johann Adolf Hasse ein. Das "Hasse-Haus" in der Alten Holstenstraße 79 wurde damit Sitz einer Forschungsstelle.
29. August 1991
Der Bezirk Bergedorf erreichte 100.000 Einwohner. Die drei Monate alte Katharina Bedel war die Jubiläumsbürgerin. Der Bezirk blieb weiterhin der mit den wenigsten Einwohnern.
11. Dezember 1991
Das Geologische Landesamt Hamburg stellte im Spiegelsaal des Rathauses die erste "Geologische Karte" für den Bergedorfer Bezirk vor. Das Blatt "Bergedorf 2527" enthielt eine Kartensammlung (Maßstab 1:25.000) sowie einen Textband.
2. Mai 1995
Der Umbau des Dokumentenhauses zum Gedenkhaus mit "Halle der Namen" in Neuengamme war abgeschlossen. Der 80 qm große Raum wurde nach einem Entwurf von Thomas Schütte künstlerisch gestaltet: Lange weiße Stoffbahnen trugen die Namen der hier umgekommenen Opfer. Sieben Pulte mit Totenbüchern standen im Raum. Die örtliche Initiative "Ein Gedenkraum für Neuengamme" hatte 50.000 DM der 200.000 DM Baukosten selbst gesammelt.
26. Mai 1995
Bodo Sellhorn kaufte von der Stadt Hamburg das historische "Zollenspieker Fährhaus". Er plante Sanierung, Erhalt als Gast- und Ausflugsstätte sowie einen Hotelanbau.
August 1995
Der Bergedorfer Bürgerverein übergab dem Bergedorfer Museum vier Wolfgang-Götze-Zeichnungen als Dauerleihgabe. Unter dem Motto "Bergedorfer Bürger helfen ihrem Schloss" bot der Verein die in einer Auflage von 444 Exemplaren erstellte Götze-Mappe zum Preis von 38 DM an, um die Bauarbeiten am Schloss mitzufinanzieren.
14. Dezember 1995
Sozialsenatorin Fischer-Menzel weihte das fast 300 qm große Graffito-Bild an der Fassade des SAGA-Wohnhauses Otto-Schaumann-Weg 4d ein. Mit 28 Metern Höhe kam es 1996 als größtes Graffito der Welt ins Guinness-Buch.
17. Januar 1996
Handwerker begannen mit den ersten Restaurierungsarbeiten am Dachbereich des Nordwest-Flügels (von 1898) des Schlosses. Sie arbeiteten zu Sonderkonditionen unter dem Motto "Bergedorfer Handwerker helfen ihrem Schloss" unter Leitung von Bezirkshandwerksmeister Berend Kohlhase.
23. März 1999
300 Jahre nach der Geburt Hasses wurde die Straßenfläche der Alten Holstenstraße zwischen Hasse-Haus und Kirche ihm gewidmet: Sie heißt jetzt Johann-Adolf-Hasse-Platz. Ein Zaun mit Notenschlüssel-Motiv wurde errichtet und eine Johann-Adolf-Hasse-Rose getauft, die später auch in Bergedorf verkauft wurde.
Weitere bemerkenswerte Ereignisse
12. Februar 1990
In der großen Baugrube Vierlandenstraße/Holzhude fand die Grundsteinlegung für das geplante "Treff-Hotel" statt.
13. Februar 1991
Eröffnung des ersten Dialysezentrums für Bergedorf – und damit auch in Hamburgs Osten – in der Bergedorfer Schlossstraße, in ehemaligen Räumen der Tabakfabrik Rödinger.
1999
Die 1889 gegründete Menzer-Werft wurde mangels Aufträgen geschlossen. Die Werft baute am Schleusengraben vor allem Zoll-, Polizei-, Feuerwehr- und Alsterschiffe. Exakt 110 Schiffe wurden seit Kriegsende in Bergedorf gebaut.
Juni 1999
Thomas Sannmann vom Ochsenwerder Norderdeich 50 stellte die in zehnjähriger Arbeit aus altem Saatgut neu gezogene Tomate "Vierländer Platte" vor – besser bekannt als "Original Vierländer Tomate". Eine stark gerippte, flache Fleischtomate wurde im Rahmen einer Hofführung in seinem Demeter-Betrieb präsentiert.
1. September 1999
Anlässlich des 60. Jahrestages des Beginns des Zweiten Weltkrieges wurde im Park der Gedenkstätte Neuengamme ein neues Mahnmal enthüllt. Die 30 symmetrisch angeordneten Granitblöcke stehen für die Totalität der Nazi-Zeit, geschaffen vom Künstler Jan de Weryha-Wysoczanski.