Architekt Hermann Distel und sein Vermächtnis
Eine Straße ehrt ihren Architekten – Die Hermann-Distel-Straße im Herzen von Bergedorf trägt den Namen eines der bedeutendsten Architekten Hamburgs im frühen 20. Jahrhundert. Die ehemalige Bismarckstraße wurde 1949 umbenannt, um Hermann Distel zu ehren, der nicht nur internationale Anerkennung für seine Architektur erlangte, sondern auch selbst in dieser Straße lebte und arbeitete. Die Straße liegt in einem Villenviertel, das um 1910 entstand und bis heute einen Teil der gehobenen Wohnkultur Bergedorfs repräsentiert.
Die Hermann-Distel-Straße beherbergt mit dem Hansa-Gymnasium eines der traditionsreichsten Bildungseinrichtungen des Stadtteils. Das imposante Schulgebäude nach Plänen von Fritz Schumacher, errichtet zwischen 1912 und 1914, prägt das Straßenbild und zeugt von der architektonischen Qualität, die diesem Viertel seinen besonderen Charakter verleiht.
Hermann Distel – Leben und Werk eines Architekten
Hermann Christian Distel wurde am 5. September 1875 in Weinsberg geboren. Nach seinem Architekturstudium an den Technischen Hochschulen in Stuttgart und Karlsruhe, wo er bei renommierten Professoren wie Carl Schäfer und Friedrich Ratzel lernte, sammelte er ab 1902 erste Berufserfahrungen in verschiedenen deutschen und Schweizer Städten, darunter Karlsruhe, Zürich, Berlin, Freiburg im Breisgau und Breslau.
Im Jahr 1905 gründete er zusammen mit seinem Studienfreund August Grubitz das Architekturbüro Distel und Grubitz in Hamburg. Diese Partnerschaft sollte zu einer der erfolgreichsten Architektenfirmen der Hansestadt werden. Das Büro erlangte zunächst durch repräsentative öffentliche Bauten Bekanntheit, bevor es sich später auf Krankenhausarchitektur spezialisierte.
Hermann Distel verstarb am 15. August 1945 in Hamburg-Bergedorf im Alter von 69 Jahren in seinem Wohnhaus. Er erlag den Folgen einer schweren Verletzung, die er sich 1943 bei einem Luftangriff zugezogen hatte, als er von einem Lastwagen geschleudert wurde.
Das Hauptgebäude der Universität Hamburg
Eines der bedeutendsten Werke von Hermann Distel und August Grubitz ist das Hauptgebäude der Universität Hamburg, dessen weithin sichtbare Kuppel zu einem Wahrzeichen der Stadt wurde. Das Gebäude wurde von 1909 bis 1911 errichtet, nachdem das Architekturbüro Distel & Grubitz einen Wettbewerb in den Jahren 1907/08 gewonnen hatte. Zur Jury gehörten so renommierte Architekten wie Theodor Fischer, Gabriel von Seidl, Friedrich von Thiersch und Ludwig Hoffmann.
Das Vorlesungsgebäude, eine frühe Betonkonstruktion, beherbergt zahlreiche Hörsäle für insgesamt 3.000 Personen. Das Hauptgebäude war eine Stiftung von Edmund Siemers, der das Gebäude für das "Allgemeine Vorlesungswesen" errichten ließ. 1919 wurde es von der Universität übernommen und ist seitdem das zentrale Gebäude der Hamburger Hochschule.
Mit diesem Bauwerk etablierte sich Hermann Distel als einer der führenden Architekten Hamburgs und legte den Grundstein für seine weitere erfolgreiche Karriere.
Spezialisierung auf Krankenhausarchitektur
In den 1930er Jahren spezialisierte sich das Architekturbüro Distel und Grubitz auf den Krankenhausbau. Hermann Distel veröffentlichte 1931 und 1932 zwei Bücher über Krankenhausbau, die ihm internationale Anerkennung einbrachten. Zwischen 1936 und 1942 wurde er mit mehr als 80 Bauprojekten und zahlreichen theoretischen Arbeiten zum aktivsten Krankenhausarchitekten der NS-Zeit.
Diese Spezialisierung brachte Distel Aufträge aus ganz Deutschland ein. Seine Expertise in der Planung funktionaler und hygienischer Krankenhausbauten machte ihn zu einem gefragten Fachmann auf diesem Gebiet. Allerdings führte diese Tätigkeit auch zu Verstrickungen mit dem NS-Regime, da er unter anderem für das Universitätskrankenhaus in der geplanten Hauptstadt "Germania" beauftragt wurde.
Nach dem Krieg trennte sich Distel 1932 von seinem langjährigen Partner Grubitz und stellte 1933 seinen Sohn Walter als Architekten ein, wodurch das Büro eine zweite Karrierephase erlebte.
Das eigene Haus in der Hermann-Distel-Straße
Das zwischen 1910 und 1911 erbaute Haus an der heutigen Hermann-Distel-Straße 31 in Hamburg-Bergedorf entwarf Hermann Distel als Wohnhaus für sich und seine Familie. Er lebte dort bis zu seinem Tod im Jahr 1945. Die Villa steht heute unter Denkmalschutz und ist ein bemerkenswertes Beispiel der Architektur des frühen 20. Jahrhunderts.
Laut seinem Biografen Peter R. Pawlik verkehrten aufgrund von Distels prominenter Rolle im Krankenhausbau NS-Größen wie Albert Speer, Karl Brandt und Oskar Schröder in seinem privaten Haus in Bergedorf. Diese Kontakte werfen ein kritisches Licht auf Distels Rolle während der NS-Zeit und haben seit 2016 zu Diskussionen über eine erneute Umbenennung der Straße geführt.
Das Villenviertel, in dem die Hermann-Distel-Straße liegt, wurde von der Bergedorfer Magistrat als erhöhter Standort in einem neuen Villenquartier bereitgestellt. Diese bevorzugte Lage unterstreicht die soziale und architektonische Bedeutung des Viertels im frühen 20. Jahrhundert.
Das Hansa-Gymnasium – Ein architektonisches Highlight
Am 13. Juni 1914 zog das Hansa-Gymnasium in das Gebäude an der Hermann-Distel-Straße 25 ein. Das imposante Schulgebäude wurde zwischen 1912 und 1914 nach Plänen des Hamburger Architekten Fritz Schumacher errichtet. Die Schule, die ursprünglich am 2. April 1883 als "Höhere Bürgerschule" am Neuen Weg 21 in Bergedorf gegründet worden war, hatte bereits mehrere Standorte durchlaufen, bevor sie ihr endgültiges Domizil in diesem repräsentativen Neubau fand.
Das von Fritz Schumacher entworfene Gebäude berücksichtigt in seiner Gestaltung die erhöhte Lage in einem neuen Villenquartier und fügt sich harmonisch in die gehobene Architektur der Umgebung ein. Bis heute ist das Hansa-Gymnasium eine der bedeutendsten Bildungseinrichtungen Bergedorfs und prägt das Erscheinungsbild der Hermann-Distel-Straße maßgeblich.
Die Straße heute – Zwischen Tradition und kritischer Reflexion
Die Hermann-Distel-Straße ist heute eine ruhige Wohnstraße in einem der attraktivsten Viertel Bergedorfs. Die Villen aus der Gründerzeit, darunter die denkmalgeschützte Villa Hermann Distels, prägen noch immer das Straßenbild. Das Hansa-Gymnasium bleibt ein lebendiger Teil des Viertels und trägt zur kulturellen und bildungspolitischen Bedeutung der Straße bei.
Vor dem Haus Hermann-Distel-Straße 34 erinnert ein Stolperstein an Ida Burg, ein Opfer des Nationalsozialismus. Diese Gedenkstätte mahnt an die dunkle Vergangenheit und wirft Fragen nach der Verantwortung historischer Persönlichkeiten auf.
Seit 2016 wird die Umbenennung der Hermann-Distel-Straße diskutiert, da der Namensgeber während der NS-Zeit eng mit dem Regime zusammenarbeitete. Diese Debatte spiegelt einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs über den Umgang mit historisch belasteten Straßennamen wider. Unabhängig vom Ausgang dieser Diskussion bleibt die Straße ein bedeutendes Zeugnis der Bergedorfer Stadtgeschichte und der architektonischen Entwicklung Hamburgs im 20. Jahrhundert.
Die Hermann-Distel-Straße erzählt die Geschichte eines talentierten Architekten, dessen Werk die Hansestadt geprägt hat, dessen Leben aber auch die Verstrickungen vieler Deutscher mit dem NS-Regime exemplarisch zeigt. Sie ist damit nicht nur ein Ort des Wohnens und Lernens, sondern auch ein Ort der Erinnerung und der kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.